Wir twittern, und tweeten nicht.

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Seit einiger Zeit geistert ein neudeutsches Unwort durch den digitalen Zeitgeist: Wir tweeten! Bitte was? So ein Unsinn! Das weiß doch jedes Kind, dass wir twittern! Weil es das Blog heißt und nicht der Blog. Weil wir facebooken und nicht facebuchen! Wer hat Schuld für diese Misere? Die Werbung! Eine unselige Momentaufnahme über die Unkultur der deutschen Werbeversprecher und ein Appell an die deutsche Sprache…

Je länger man bei Twitter die Timeline und die unzähligen Tweets beobachtet, desto öfter fallen wahnwitzige Worthülsen auf. Manchmal wirken diese Begriffe inspirierend, einmal animieren sie zum Nachdenken, aber ein anderes Mal ergeben sie nichts. Ich muss zugeben, dass sich meine subjektive Wahrnehmung hinsichtlich der Häufung von digitalen Worthülsen dadurch begründet, weil ich ein gewisses Interesse dafür entdeckt habe – und seit wenigen Tagen schon ganze sechs Jahre bei Twitter aktiv bin. Da nimmt der Geist vieles von dem digitalen Wirrwarr mit. Doch war die Welt früher begrünt und schien der eitle Sonnenschein, ziehen heutzutage immer öfter düstere Wolken auf. Die Leute wollen nicht mehr twittern, sondern verbalisieren sich inbrünstig auf „tweeten“.

Twitter - Vögel als Symbolfoto

Während des allabendlich klassischen Rituals der geistigen Verrohung, die sehr oft im parallelen Livestream zur besten TV-Sendezeit zelebriert wird, bemerkte ich dieses Wort – nicht nur in meinem Stream, sondern als Teil einer Reklame. Irgendwann musste im Privatfernsehen das Geld wieder reinkommen, so dass meine mittlerweile geschätzte Lieblingssoap von einem Werbeblock unterbrochen wurde.

In diesem speziellen Fall wollte ein Werbetreibender, nennen wir ihn einfach „Sauerstoff“ „Luftblasen“ aus dem Segment der Mobilfunkanbieter, auf emotionale Botschaften setzen und seine junge kaufkräftige Zielgruppe dazu animieren, passende Verträge mit oder ohne Smartphones zu kaufen. Nicht nur das Unternehmen wollte seine Kampagne gemäß der allgemein bekannten und hochgradig präferierten Nutzungsszenarien hin zu Social Networks anpassen. Nein, ich vermute, ein Werber wollte sogar „hip und trendy“ sein, so dass eben diesem jenen Menschen einfiel: „Wir tweeten!“

Ich musste an Heinrich von Kleist denken. „Träum ich? Wach ich? Leb ich? Bin ich bei Sinnen?“ Nein, ersteres tat ich nicht, den zweiten und dritten Zustand konnte ich bestätigen. Nur die Frage nach meinen Sinnen wollte sich nicht sofort beantworten lassen. Dafür nutzte ich spontan eine bewährte Suchmaschine, um mich über dieses Unwort zu informieren. Die ersten Ergebnisse zeugten von dieser Verrücktheit, die wohl weitere Menschen umspannt haben musste!

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Diesem Spuk muss schnellstmöglich ein Ende bereitet werden. Denn nun schlotterten meine Knie, ich klapperte gar fürchterlich mit den Zähnen und traute meinen Augen und Ohren nicht mehr. So verunsichert geisterte ich durch das digitale Nirvana – als wäre ich Hui Buh, seines Zeichens renommiertes Schlossgespenst. Und andere Nutzer empfanden ähnlich, denn ihnen erging es nicht anders als mir. Wir wunderten uns!

Einen genauen Zeitpunkt für das erste Mal dieser Begrifflichkeit kann ich nicht benennen. Doch die Reizschwelle dieser Wortschöpfung schien überschritten. Doch alles erinnerte daran, dass eben jene Diskussion auf ähnliche Art und Weise rund das Blog geführt wurde. Jeder digitale Asket ist sich dessen bewusst, dass die Sprachforscher das Blog nicht richtig in ihren Unterlagen zugeordnet haben. Von einem Weblog kommend, ein Neutrum sondergleichen, entwickelte sich die Kurzform des Blogs heraus, welches sich vom Deutschen her in Logbuch, einem weiteren Neutrum begründet. Die maskulinisierte Form, von einem Blog als der Blog zu sprechen, ist ein Tabubruch und wird nicht selten in eingeweihten Kreisen mit schaurigem Schweigen bestraft.

Soweit mir bekannt ist, gibt es keinen Twitter-Duden, aber die Entwicklung unserer modernen Sprache erfordert meiner Meinung nach nicht immer den Duden. Wenn Unternehmen und eigentlich im Vordergrund ihre Werbeverantwortlichen die Allgemeingültigkeit der gelebten Sprachpraxis auf ein unreifes Wort verkappen, das keine historischen Wurzeln im deutschen Sprachraum vorweisen kann, bekomme ich es mit der Angst zu tun. Die Erinnerungen an das typische Beratersprech entfalten sich schnellstens im Geiste. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Tieren und Wesenheiten wirken gewollt und nicht zufällig. Ob dies nun dem hippen Zeitgeist unterliegen mag oder doch nur dem Zufall, möchte ich nicht bewerten.

Falsche Schreibweise Richtige Schreibweise Hintergrundwissen
tweeten twittern Schreibt man beim Kurznachrichtendienst Twitter.com eine Statusmeldung, den sogenannten „Tweet“, so twittert man bzw. hat getwittert. Diese Aktivität wird nach dem Anbieter und Medium (Twitter) bezeichnet, jedoch nicht nach dem Endergebnis, der Statusmeldung (Tweet). Unterschiedlich wird die Weiterverbreitung eines anderen Tweets als deutsches Verb gesehen, indem „retweetet“ wird (von „Retweet“).

Ich appelliere an jeden Mitleser und bitte um Unterstützung: Signalisiert es allen, dass es nur das Wort „twittern“ und nicht „tweeten“ gibt.

Ich twittere, und tweete nicht.
Du twitterst, und tweetest nicht.
Er/sie/es twittert, und tweetet nicht.

Wir twittern, und tweeten nicht.
Ihr twittert, und tweetet nicht.
Sie twittern, und tweeten nicht.

tl;dr
Wir alle twittern gern und unterhalten damit den digitalen Äther auf individuellste Weise. Das Blog und ich danken euch allen dafür.

Nachtrag: Selbst der Duden spricht sich für „twittern“ aus. ;)

15 Kommentare
  1. reidan sagte:

    Vielen Dank für die unterhaltsame Lektüre. Der in einer wunderbaren Aufgeregtheit eines Sprachhüters verfasste Text ist ein humoriges Pamphlet wider die Auswüchse des Werbesprechs. Allerdings bleibt uns der Text schuldig, warum wir „twittern“ und nicht „tweeten“ sollen (keine Angst: Auch ich sage seit 2007 „twittern“). Der vermutliche Grund ist, dass es kein Argument dafür gibt, das einer rationalen Prüfung standhält. Wir „twittern“, weil wir „skypen“ und „chatten“. Allerdings „nintendoen“, „IMen“ und „dropboxen“ wir vermutlich nicht. Es hat sich eingebürgert, und es gefällt uns besser als „tweeten“. Und wir haben Recht, weil wir vorher da waren. Auch „twittern“ ist folglich ein Produkt eines Hipster-Zeitgeists. Viele Grüsse

  2. Mike Schnoor sagte:

    @reidan Vielen Dank! Nun, den Grund gibt es doch – und ich liefere ihn in obigem Text: Der Wortstamm orientiert sich am Namen des Dienstes, also an „Twitter“. Ähnlich wie „facebooken“, „skypen“ und „chatten“ von Facebook, Skype und dem Chat abstammen. Aber „dropboxen“ tue ich auch – zwar selten, doch dann nach dem Motto: Wenn schon, denn schon. Wobei ich gestehen muss, dass ich gewisse Dinge in die Dropbox lade oder packe… ;)

  3. Tom sagte:

    „facebuchen“ ist ein schlechter Vergleich, da „tweeten“ nicht eingedeutscht wurde sondern von Tweet kommt. Ich werde es weiter benutzen. So. „Ihr“ müsst das ja nicht.

  4. moritz sagte:

    Und was mache ich, wenn ich einen Tweet wiederhole?
    Retweete ich dann oder retwitter ich dann?
    Vielleicht zurücktwittern, oder handelt es sich dabei um eine Antwitt weil ich antwitter?

  5. Manuel sagte:

    Danke Mike, das ist ein Artikel der sich so flüssig lesen lässt wie ich es gern habe. Zudem ist dieser spitzfindige Humor genau das, was das Thema Sprache manchmal braucht. Denn wenn es um Sprache geht, warum nicht auch mit ihr spielen. Du hast es in dem Artikel ja selbst schon erwähnt, wenn auch nicht so direkt: die meisten Wortneuschöpfungen der Moderne lassen sich durch einfaches logisches Denken erklären. Gut finde ich da wirklich das leidige Beispiel „Blog“.

    @moritz: Retweeten leitet sich in dem Fall vom Endprdoukt, dem Retweet, ab. Der Retweet ist ja keine Antwort sondern lediglich ein 1:1 übernommener Tweet. Das Hinzufügen eigenen Inhalts, was oft für eine indirekte Antwort benutzt wird, betitelt Twitter ja selbst, zumindest im deutschen Interface, als Tweet zitieren und ist damit nur bedingt ein Retweet.

  6. Dave sagte:

    Es werden noch Wetten angenommen, ab welcher Ausgabe des Dudens auch „tweeten“ als gebräuchlich und damit richtig eingestuft wird …

  7. Karsten Sauer sagte:

    Ich twittere, ich retweete und schreibe ab und zu was in mein Blog, weil es eben das Logbuch ist, welches ich schreibe. Mir tun diese Verbiegungen auch immer in der Seele weh und tue dies auch immer wieder kund.

    Aber spätestens, seit mir jemand damit kam, er habe einen ‚Jieper‘ auf irgend ein Nahrungsmittel, habe ich irgendwo resigniert und die normative Kraft des Faktischen zur Kenntnis genommen, auch wenn diese Fälle von der werbetreibenden Industrie angestoßen wurde. Wenn es irgendwann alle so verwenden, wie sie es nun mal tun, wird das zum Normalen. Tut weh, muss aber wohl ab einem gewissen Punkt hingenommen werden. Oder doch nicht?

    Übrigens bin ich @sauerstoff auf Twitter und schlage für die nächte Umschreibung des Unternehmens vor, ‚Die mit dem Wasserblubb‘ oder so zu verwenden. Ich möchte mit denen nämlich ungern in Verbindung gebracht werden. ;-)

  8. nk sagte:

    Ich „twittere“ auch, allerdings finde ich einen ganzen Artikel darüber jetzt – übertrieben. Lass sie doch tweeten und wir twittern, hauptsache man drückt sich aus. Dass „tweeten“ vielleicht sperrig, aber so doof jetzt gar nicht ist, zeigst Du ja bereits selbst: „Unterschiedlich wird die Weiterverbreitung eines anderen Tweets als deutsches Verb gesehen, indem “retweetet” wird (von “Retweet”).“ Konsequent inkonsequent nennt man so was.

  9. Pattrick sagte:

    „Das Blog“ nicht „der Blog“ ergo „twitter“ nicht „tweeten“.

    Logisch oder?

  10. Mark Schreiber sagte:

    Die Deutschen sollten genauso wenig „twittern“, wie sie „SMS“ verschicken oder „SMSen“…beides allergrösster Schwachsinn! Twitter heisst der Kurznachrichtendienst im Internet und SMS der entsprechende Service (Short Message Service) am Mobiltelefon (aka „Handy“). Einen Dienst verschicken wir bei beiden Varianten nicht, sondern eine Nachricht! Wenn wir für die Nutzung von Twitter ein Verb wollen, dann sollte dies sich an der Quellensprache orientieren, also „to tweet“ (aka „tweeten“, eben „zwitschern“) oder „texten“ (für SMS – im Englischen schickt sich niemand eine „SMS“ sondern man schickt sich einen „text“ oder eine „message“).
    In diesem Sinne: „Come in and find out!“

    PS: Es ist bereits schlimm genug, dass man die „Journalisten“ und das „Journal“ neuerdings im Deutschen angliziert hat (ich sage nur: „Ich heisse Tscheff!“ ;-)…Wenn dann noch über „Tschikago“ und „New Orleeeens“ in der Tagesschau hört, stellen sich jedem braven GEZ-Zahler die Nackenhaare hoch!

    PS: Bin selbst Deutscher mit Wohnsitz in Österreich.

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