Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit

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Der Tag der Deutschen Einheit ist ein guter, wichtiger Feiertag für die deutschen Mitbürger. Er soll sie nicht nur daran erinnern, dass das einst in Ost und West geteilte Deutschland wiedervereinigt wurde. Nein, an diesem deutschen Nationalfeiertag sollte daran gedacht werden, dass die Freiheit in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich ist, sondern hart verdient sein möchte. Dieser Tag und das Verständnis der Deutschen Einheit bewegt mich aus vielen Gründen, denn in all den Jahren gab es viele Erlebnisse, an die ich mich gerne, auch mit zwinkern im Auge, erinnern möchte.

Ich bin ein Nachfahre von deutschen Kriegsflüchtlingen, die einst auf der Robert Ley, dem Schwesterschiff der Wilhelm Gustloff, ihrem sicheren Tod in Ostpreußen entkamen. Meine Vorfahren bauten nach dem zweiten Weltkrieg ihr kleines Dasein aus dem Schutt wieder auf. Aus Großgrundbesitzern wurden einfache Arbeiter, die von den alteingesessenen Deutschen verachtet wurden. Erst mit den Jahren konnten sie wirklich im neuen Deutschland des Westens wieder Fuß fassen. Die Wirren der Jahre verwickelten meine Vorfahren und ihre Verwandten in die Geschicke von Spionage im Kalten Krieg, was zum Verschwinden, oder treffender gesagt, zum ungeklärten Tod eines Familienmitglieds führte – so zumindest aus Überlieferungen meiner Großmutter.

Irgendwann im Jahr 1979 wurde ich geboren. Trotz meiner meist unbeschwerten Kindheit war der Kalte Krieg, und damit das geteilte Deutschland immer präsent in unseren Köpfen. In den 80er Jahren habe ich nicht nur die Tschernobyl-Verseuchung von Luft, Wasser und Milch mitbekommen. Nein, entgegen unserer heutigem Verständnis von Staat und Gesellschaft habe ich alle paar Wochen die rumpelnden, ratternden und für mich damals sehr beeindruckenden Panzerkolonnen durch unser Städtchen in Schleswig-Holstein herum fahren sehen. Hinzu kamen diverse militärische Patrouillen, denn wo wir lebten, gab es Grund zur Spionage von sowjetischen Truppen.

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Im Ernstfall lebten wir nahe eines der erklärten Ziele sowjetischer Atombomben, weil das Flottenkommando der deutschen Marine nur wenige Kilometer von meiner Heimat in Flensburg und Glücksburg entfernt lag. Aus einer mir nicht mehr bekannten Quelle, vielleicht der Lokalzeitung oder doch dem Gerede auf der Straße, gab es irgendwann einmal eine wilde Verfolgungsjagd von britischen Besatzern und deutschen Militärs, die über die Landstraßen in unmittelbarer Nähe führte, um sowjetische Spione zu stellen, die jedoch in einem schweren Unfall endete, als sie versuchten, nach einem gescheiterten Spionagefall über den Seeweg zurück nach Ostdeutschland zu gelangen.

Apropos Ostdeutschland, denn es geht hier ja um die Einheit der Deutschen. Anfangs war es nicht ganz klar für uns Kinder, was hinter der Grenze, dem Todesstreifen so passierte. Neben den diversen „Care-Paketen“, die teils monatlich von unserer Familie nach Ostdeutschland geschickt wurden, tauschten sich die verbliebenen Verwandten zumindest mal hier und da mit Briefen aus, sofern dies über die Grenze hinweg möglich war. Ob die dicken Mäntel, die teure Schokolade und der ganze westliche Nippes aus den unzähligen Paketen jemals bei ihnen ankam, bleibt bis heute offen, denn mit großer Wahrscheinlichkeit wurde an der Grenze ein großer Teil von den DDR-Grenzbeamten beschlagnahmt und in eigene Tasche gewirtschaftet, den verbleibenden Rest hatte die Verwandschaft zum besten Preis im Ort verscherbelt.

Eine aus heutiger Sicht extrem nachdenklich stimmende Zeit, die mit dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs sehr vielen Menschen Erleichterung und Erkenntnis brachte. Vor allem der Verbleib der teuren Dinge, die als Geschenk und Leihgabe nach Ostdeutschland verschickt wurden, konnte nie geklärt werden. Auf Wiedersehen, ihr schönen Pelzmäntel, ihr exquisiten Avantgarde-Kleider und guten Schuhe. Da musste unsere Familie hart schlucken, als ihnen klar wurde, dass die Verwandschaft im Osten die wertvollen Waren in bare Münze gewandelt hatten. Tja, kurz nach der Wende reisten wir nämlich zu den entfernten Verwandten. Zuerst auf väterlicher Seite, die in Mecklenburg-Vorpommern bei Rastow auf einem Bauernhof lebten.

Das Ergebnis war also eher ernüchternd statt erhellend, weil die verwandschaftlichen Verbindungen einfach viel zu lose waren, als dass man Gemeinsamkeiten hatte. Wir inspizierten die fetten Kartoffelkäfer und das herunter gekommene Anwesen, blickten erstaunt auf den Trecker und Trabbi. Doch einen schrecklichen Muckefuck und einen mit Wespen übersäten Blechkuchen später verabschiedete man sich und ging fortan getrennte Wege. Die anderen entfernten Verwandten mütterlicherseits reisten jedoch zu einem längeren Besuch bei unserer Familie an.

Doch sie lebten mit ihrem Einzug mit Sack und Pack, quasi von einem Tag auf den anderen, leider wie die Mietnomaden im Haus meiner Großmutter. Unsere Familie wollte ihnen die Chance geben, sich etwas Eigenständiges nach der Wende aufzubauen. Doch sie wollten gar nicht arbeiten, sondern nur auf Pump leben und von Großmutter mit Essen, Getränken und Unterkunft versorgt werden. Als Jugendlicher hatte mich diese Faulheit extrem geärgert, denn diese Verwandten waren Mitte Zwanzig und verbrannten quasi das Geld unserer Familie, von dem eh nicht viel zur Verfügung stand. Offenbar fehlte ihnen nicht nur die Lust auf Arbeit. Gerade der Alkohol schmeckte wohl deutlich besser als der selbstgebrannte Schnaps vom Land. Damit alles so mal hier und dort finanziell klappte, lebten sie nicht nur auf zu freier Kost und Logis unter unserem familiären Dach, sondern obendrein machten nicht zu verachtende Schulden – natürlich Spielschulden bei zwielichtigen Personen. All dies lief genau bis zu dem Moment gut, bis die russischen Geldeintreiber eines Tages vor der Tür meiner Großmutter standen, denn schließlich wohnten die Schuldner unter ihrem Dach. Kurze Rede, langer Sinn: Die Verwandten aus dem Osten wurden zu Recht aus dem Haus verwiesen. Wir wissen bis heute nicht, was aus ihnen geworden ist. So schnell wieder verliert sich die verwandtschaftliche Zusammenkunft im Nebel der Zeit, dass hier Krieg und Verdammnis zumindest vergessen, vielleicht auch verdrängt werden konnten.

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In der Schule hingegen entflammte die Diskussion um die Wiedervereinigung von Deutschland. Die Wahrnehmung war etwas anders, denn neue Schüler und Schülerinnen wurden in die Klassen aufgenommen, die aus den neuen Bundesländern zugezogen waren. Ihr Sächsisch war für uns norddeutsche Fischköpfe ebenso unverständlich wie Bayrisch. Ungefähr zu dieser Zeit entstand unser Klassenwitz, dass für uns „Nordisch by Nature“-Kinder ja südlich von Hamburg, also mit der Elbe als Rubikon der Kulturen bereits alles Bayern sei. Gut, so war das bei jungen Leuten – aber wir hatten das auch nie so richtig ernst genommen. Gleichermaßen zu unserer kindlich-kulturellen Dämonlogie dieses aufstachelnden Ost-West-Konflikts unter Jugendlichen, der nur anhand von Sprache, Herkunft und Gebräuchen inszeniert wurde, dominierte das totalitäre Nazi-Regime mahnend den Geschichtsunterricht. Also eine Erdung juveniler Quatschköpfe.

Für mindestens sechs Jahre hieß es mehrfach in der Woche, man lese etwas über Hitler, Himmler, Göbbels und die anderen SS-Schlächter. Übrigens war Geschichte ein gewählter Leistungskurs bei meinem Abitur. Filme wie „Schindlers Liste“ und zum Ende der Schulzeit „Ein Soldat namens James Ryan“, diverse andere Kriegsdokumentationen und Anti-Kriegsfilme brannten inszenierte, aber eindrucksvoll beklemmende Bilder in mein Gedächtnis. Zahlreiche Texte aus unterschiedlichsten Quellen galt es zu analysieren, zu deuten und im richtigen Kontext zu verstehen. Wir wurden daran erinnert, dass die Spaltung Deutschlands in Form der Besatzungszonen und der späteren Unterteilung in Ost- und Westdeutschland nur durch Wahnsinn der Vergangenheit und die Schandtaten eines ganzen Volkes unter ihrem Regime vollzogen wurde.

Alles in allem bin ich ein von der Geschichte bewegter Mensch, der sich seiner Vergangenheit sehr wohl bewusst ist, und die Entwicklung von Deutschland immer wieder beobachtet. Meistens mit Wohlwollen, doch zunehmend mit Soege. Wo stehen wir heute? 26 Jahre lang hält die Einheit der Deutschen. Aber sie baumelt schon wieder an einem seidenen Faden. Schauen wir vor allem nach „Rechts“, sind die braunen Treiber in den letzten Jahren immer lauter geworden. Jetzt treten sie im geschniegelten Anzug auf Bühnen und in den Medien auf, gewinnen parlamentarischen Einfluss, um ihr rechtes Gedankengut in der von ihnen abgelehnten Demokratie wie ein trojanisches Pferd zu platzieren. Ein großer Teil der Bürger steht für dieses traditionelle Wertekonstrukt ein, das keinen grünen Zweig am so fragilen Pflänzchen unserer eigentlich noch jungen Demokratie lassen würde. Politiker mahnen derweil zur Besonnenheit, aber bislang können sie den entzweienden Kräften nichts Standhaftes außer ihre Worte entgegenstellen.

Meine Kinder sind ein Ergebnis des Mauerfalls, der Wiedervereinigung und der Deutschen Einheit. Denn nur durch das Ende des Kalten Krieges fanden meine Frau und ich irgendwie über Umwege zueinander – ohne jetzt weiter auf das Kapitel einzugehen. Ja, ich bin froh, dass es uns gut geht und unsere Kinder unbeschwert aufwachsen können. In der Grundschule spricht leider offenbar niemand das geschichtsträchtige Thema an, obwohl es wünschenswert ist, wie auch Frau Merkel dafür plädiert hat, mehr Geschichte zu erklären und im Unterricht zu integrieren. Ich bin froh darüber, dass sie ein Teil von einer multikulturellen Gesellschaft sind, in der Flüchtlingskinder genau wie sie auf die gleiche Schule gehen und für das Leben lernen. Es gibt keine Flüchtlinge, denn dort sind doch alles nur Kinder. Vielleicht schaffe ich es später am Tage noch, meinen Kindern einige geschichtliche Informationsbrocken kindgerecht zu vermitteln, um ihnen zu zeigen, wie gut es ihnen geht – oder sie lesen irgendwann diesen Text aus meiner Feder und können den Tag der Deutschen Einheit aus meiner Sicht verstehen.

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